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Der Artikel ist keine ‘Wortart’! Zur synthetischen Grammatik von Sekiguchi

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Kennosuke Ezawa
Ost-West-Gesellschaft für Sprach- und Kulturforschung, Berlin

Die Linguistik war lange nicht zur Erkenntnis dessen gekommen, was durch den Artikel geschieht, wenn er verwendet wird.

„Allheit“ ist bekanntlich ein Inhalt, der im Deutschen mit dem sogenannten bestimmten Artikel realisiert werden kann: Der Mensch ist sterblich.

Der Inhalt „Allheit“ kann jedoch, wie Gabelentz zeigt (G. v. d. Gabelentz: Die Sprachwissenschaft, 1891: 98, 1901: 95), nicht nur mit dem bestimmten, sondern auch mit dem unbestimmten und dem Null-Artikel, aber auch mit verschiedenen anderen Mitteln (wie jed-er, all-e, insgesamt usw.) im Deutschen ausgedrückt werden:

Ein Fixstern hat
Jeder Fixstern hat
(Die) Fixsterne haben …….eigenes Licht u. s. w.
Alle Fixsterne
Fixsterne haben insgesammt

Es zeigt sich also, dass es sich bei einem Artikel um ein „Mittel“ handelt, das erst dadurch zu seinem Inhalt kommt, dass der Sprecher und Hörer es im jeweiligen Kontext aktiv einsetzt. Der Artikel selbst hat als grammatisches Mittel keinen eigenen Inhalt, ob als bestimmter, unbestimmter oder Null-Artikel, kann also keine Wortart sein.

Coseriu zeigte diesen linguistischen Aspekt der Artikelverwendung in seiner Abhandlung „Determinierung und Umfeld“ (Original: „Determinación y entorno“, in: Romanistisches Jahrbuch 7, 1955) sprachtheoretisch auf und demonstrierte damit mitten im primär strukturalistisch orientierten Zeitalter des Fachs eine „Linguistik des Sprechens“ statt der der Einzelsprache, wie es auch im Untertitel des Aufsatzes ausdrücklich heißt: “Zwei Probleme einer Linguistik des Sprechens“ (Original: „Dos problemas de una lingüística del hablar“). Der Artikel ist keine grammatische Kategorie, die mit einem konstanten Inhalt verbunden ist, sondern ein Mittel, dessen Inhalt grundsätzlich im Sprechen selbst in Abhängigkeit vom jeweiligen sprachlichen und nicht-sprachlichen Kontext („Umfeld“) durch den Akt des Bestimmens („Determinierung“) beim Sprecher/Hörer zustande kommt.

Dieser sprachtheoretische Ansatz führt zum Konzept einer „synthetischen Grammatik“ (vgl. mein Blog vom 24. 4. 2013), die von einem grammatischen Inhalt, etwa „Allheit“, ausgeht und zu einer bestimmten Form, etwa einem unbestimmten Artikel im Singular, gelangt, im Gegensatz zur traditionellen „analytischen Grammatik“, in der man von einer gegebenen grammatischen Form ausgeht und nach deren grammatischer Bedeutung fragt. Auch die heute einflussreiche Generative Grammatik ist insofern eine synthetische Grammatik, als man darin vom intuitiven grammatischen Wissen des Sprechers/Hörers als Inhalt ausgeht und durch einen Regelkomplex eine richtige grammatische Form erzeugen will.

Ähnliche Umstände liegen im Gebrauch der Partikeln -wa und -ga im Japanischen vor, die als Anzeiger des Satzgegenstandes fungieren. Man rätselte lange darüber, in welchen Fällen die eine vorkommt und nicht die andere, und wie es möglich ist, dass beide manchmal miteinander vorkommen können. Man erfand sogar den fragwürdigen Begriff eines „Doppelsubjektes“ für den praktischen Zweck des Unterrichts.

Es war nun der Mathematiker Akira Mikami, der in den 1950-er Jahren eine Klärung des Status dieser linguistischen Gegenstände herbeiführte und die Unterscheidung des „Subjektnominativs“ (shukaku) und des „Themas“ (shudai) einführte, indem er gleichzeitig den Begriff des Subjektes (shugo) für das Japanische „abschaffte“ (A. Mikami: Nippongo no ronri – wa to ga, Tokyo: Kurosio Syuppan 1963). Die Thema-Partikel -wa wird im Gegensatz zur Nominativ-Partikel -ga im jeweiligen Kontext vom Sprecher/Hörer als Mittel aktiv eingesetzt.

Der japanische Germanist und Grammatiker Tsugio Sekiguchi (1894-1958) machte, unabhängig davon, die Verwendung des Artikels im Deutschen zum Gegenstand seines Lebenswerks Kanshi, das 1960-62 in drei Bänden erschien (Tokyo: Sanshusha). Das war ein Teil der synthetischen Grammatik des Deutschen, die er als „Bedeutungsformgrammatik“ (imikeitai-bunpô) vorhatte, ohne sie in allen Teilen ausführen zu können.

In der Wissenschaft ist der alltäglichste Gegenstand oft der schwierigste. Um einen solchen Gegenstand in den Griff zu bekommen, braucht man vielfach eine radikale Umstellung des Gesichtspunktes. Bei der sogenannten Chomskyschen Revolution Mitte der 1950-er Jahre ging es auch um den „Satz“, zu dem der Strukuralismus seit Saussure keinen gangbaren Weg gefunden hatte. (Bekanntlich zählte Saussure den Satz zur „parole“.) Chomskys „generative“ Grammatik kehrte den Gesichtspunkt um und sollte den Satz „erzeugen“, statt ihn kategoriell zu beschreiben. Mit dem bestimmten, unbestimmten und Null-Artikel im Deutschen und den japanischen Partikeln wa und ga war es genauso bestellt.

Literatur

E. Coseriu/K. Ezawa/W. Kürschner (Hrsg.): Sprachwissenschaftsgeschichte und Sprachforschung. Ost-West-Kolloquium 1995. Sprachform und Sprachformen: Humboldt, Gabelentz, Sekiguchi, Tübingen: Niemeyer 1996.

K. Ezawa/K. Sato/H. Weydt (Hrsg.): Sekiguchi-Grammatik und die Linguistik von heute, Tübingen: Stauffenburg 2009.

T. Sekiguchi: Synthetische Grammatik des Deutschen, ausgehend vom Japanischen. Übers. von K. Ezawa. München: iudicium 2008.

How to cite this post:

Ezawa, Kennosuke. 2013. ‘Der Artikel ist keine “Wortart”! Zur synthetischen Grammatik von Sekiguchi.’ History and Philosophy of the Language Sciences. http://hiphilangsci.net/2013/08/14/der-artikel-ist-keine-wortart-zur-synthetischen-grammatik-von-sekiguchi/



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